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„Die Anerkennung des Genozides ist ein bedeutsamer Meilenstein in unserem langen Kampf um Gerechtigkeit“ – Ein Interview mit dem Vorsitzenden der Êzîdischen Jugend NRW Walad Kiret

Der Bundestag hat die Gewalttaten der Kämpfenden des sogenannten Isamischen Staats (IS)  gegen die Êzîd*innen im Nordirak als Völkermord anerkannt. Etwa 250.000 Êzîd*innen leben in Deutschland, die größte êzîdische Diaspora weltweit. Seit Jahren forderten sie die offizielle Anerkennung des Völkermords, der ab 2014 begangen wurde. Wir haben mit Walad Kiret, dem Vorsitzenden der Êzîdischen Jugend NRW, darüber gesprochen, warum eine Anerkennung für die Êzîd*innen mehr als nur Symbolpolitik ist und in wie fern die Êzîdische Jugend zur Anerkennung des Genozids beigetragen hat.   

djoNRW: Walad, die Êzîd*innen haben sich sehr lange für die Anerkennung des Völkermords eingesetzt. Warum ist es so wichtig, dass ein Genozid durch den Bundestag anerkannt wird?

Walad: Die Anerkennung des Genozids an der êzîdischen Volks- und Religionsgruppe in Deutschland ist gleich aus mehreren Gründen wichtig: Die Bundesrepublik beheimatet mit konservativ 250.000 geschätzten Êzîd*innen nicht nur die größte êzîdische Diasporagemeinschaft, sondern auch die zweitgrößte êzîdische Gemeinde überhaupt. Für viele Êzîd*innen ist Deutschland die einzige Heimat, die sie kennen. Es gibt hier schon Êzîd*innen, die in dritter Generation hier leben und noch keinen Fuß in die Herkunftsländer ihrer Großeltern gesetzt haben – mit denen sie sich oftmals auch nicht identifizieren können. Es gibt keinen êzîdischen Nationalstaat, daher fehlt auch oft ein Verbundenheitsgefühl mit den Staaten ihrer Vorfahren. Anders sieht es mit Deutschland aus. Zwar erleben Êzîd*innen auch hier Diskriminierung und Ausgrenzung bzw. Othering, doch sind viele hier geboren, sie gehen hier zur Schule und sie fühlen sich gewissermaßen „deutsch“.

Dass ausgerechnet Deutschland so spät den Genozid anerkannte, löste dementsprechend bei vielen jüngeren Êzîd*innen Unverständnis aus. Andere europäische Staaten wie Frankreich haben schon Jahre zuvor die Verbrechen als einen Genozid eingestuft. Aus rechtlicher Perspektive spielt die Anerkennung ebenfalls eine tragende Rolle und bedeutet eine bessere Strafverfolgung, was somit für die in Deutschland lebenden IS-Rückkehrer*innen Konsequenzen bedeutet.  

djoNRW: Was bedeutet es für die für die überlebenden Êzîd*innen, dass der Völkermord durch den Bundestag und die Bundesregierung nun anerkannt wurde?

„Die Anerkennung des Genozides ist ein bedeutsamer Meilenstein in unserem langen Kampf um Gerechtigkeit, den wir endlich erreicht haben. Die Überlebenden fühlen sich gehört, wahrgenommen und ernstgenommen.“

Walad: Oft wurden Êzîd*innen in Flüchtlingslagern im Nordirak interviewt, was viele nach einiger Zeit mit den Worten „Egal wie oft wir unsere Geschichte erzählen, es wird sowieso nichts unternommen“, ablehnten. Stattdessen haben viele Überlebende, auch in Deutschland, über ihre Erfahrungen und ihr Leid nicht geredet. Nun wird ihnen gezeigt, dass es doch etwas gebracht hat, dass viele Êzîd*innen – insbesondere êzîdische Frauen – ihre Geschichten erzählt haben und für die Anerkennung gekämpft haben. Viele, die sich für die Anerkennung eingesetzt haben, haben beim Unterschriftensammeln gesagt bekommen, die Anerkennung würde man so nicht erreichen können und wir sollen lieber aufgeben. Der einstimmige Bundestagsbeschluss beweist, dass es doch etwas gebracht hat. Vielleicht werden so auch andere Menschen motiviert, demokratische Prozesse und die Möglichkeiten unserer Demokratie in Gang zu setzen. Denn in einer Demokratie kann jeder etwas verändern.

Erwähnenswert ist auch, dass durch die Anerkennung der Heilungsprozess der Überlebenden beschleunigt wird. Nun kämpfen sie nicht gegen etwas, wofür man nicht ernst genommen werden konnte, sondern gegen die Folgen eines Völkermordes. Hoffentlich werden auch psychologische Institutionen nun besser auf den Umgang mit Genozidüberlebenden geschult.

djoNRW: Wie hilft eine Anerkennung des Genozids den in Deutschland lebenden Êzîd*innen?

Walad: Der Prozess der Anerkennung war einer der ersten weltweit, an dem Êzîd*innen aktiv beteiligt waren und den Beschluss auch selber mitgestalten konnten. Erstmals werden Êzîd*innen also in demokratische Prozesse, die sie selber betreffen, eingebunden und wahrgenommen. Die êzîdische Geschichtsschreibung ist geprägt von Fremdbestimmungen, so wird auch in der Bundeszentrale für politische Bildung eine Islamwissenschaftlerin zu den Êzîd*innen zitiert. Dies ist auch kein Einzelfall und resultiert oft darin, dass Êzîd*innen als ethnische Araber oder Kurden und religiös als islamische Sekte reduziert oder diffamiert werden. Daher wünschen wir uns, dass die bei der Anerkennung stattgefundene Partizipation – bzw. das Miteinbeziehen von Êzîd*innen – künftig beibehalten wird und sich auch auf weitere demokratiefördernde Projekte und die antirassistische Arbeit auswirkt. Sodass nicht mehr über, sondern auch mit Êzîd*innen und ihrer Perspektive gearbeitet wird.

Damit wurde nun ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstbestimmung unternommen, der die in Deutschland lebenden Êzîd*innen, und alle Êzîd*innen weltweit dazu anregen kann, die eigene Identität selber in die Hand zu nehmen und aktiv zu werden. Êzîd*innen können sich nun   selbst  als ethnoreligiöse Gemeinschaft definieren und vorstellen.

djoNRW: Inwiefern hat die Arbeit der Êzîd*ischen Jugend dazu beigetragen, dass der Völkermord letztendlich anerkannt wurde?

Walad: Wie erwähnt, ist Deutschland für die meisten êzîdischen Jugendlichen das Land, zu dem man die größte Bindung fühlt. Als im Spätsommer 2021 dann eine Petition zur Anerkennung des Völkermords beim Bundestag gestellt wurde, kamen viele Jugendliche auf uns zu. Die Petition lief nämlich anfangs sehr schleppend, da die êzîdische Öffentlichkeit nicht darüber informiert wurde. Als dann mehrere Jugendliche auf Social Media für die Petition warben, wurde der Stein ins Rollen gebracht. Dafür errichteten wir auch über Social-Media Gruppen für viele Städte, um die freiwilligen Êzîd*innen und weitere Unterstützer*innen zu organisieren. Insgesamt wurden rund 57.000 Unterschriften gesammelt, davon wurde der Großteil durch solche Aktionen erbracht. Die weiteren Prozesse wurden von êzîdischen Jugendlichen bis ans Ende auf Social Media beobachtet. Auffallend ist, dass viele dieser Êzîd*innen auch selber an unseren Seminaren teilnahmen oder sogar Mitglied bei uns sind. Das zeigt meiner Meinung nach die Korrelation zwischen ehrenamtlichen Einsatz und dem Kampf für Selbstbestimmung und Anerkennung. Ehrenamtlich Tätige spielen immer eine große Rolle auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene, auch wenn sie dafür nur selten geehrt werden.

Das Interview führte Katharina Mannel.